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Eine Aktentasche voll Geschichte

11.08.2009 17:30, JC Kage

Herr Julich

Foto: Michael Bennett

Von Christian Kage und Lu Yen Roloff

EISENHÜTTENSTADT. Harry Julich kam zum Wahlfahrt09-Stand, um uns seine Geschichte zu erzählen. Er ließ sich mit Christian Kage zum Bier im benachbarten Hähncheneck nieder und holte Lu Yen Roloff am nächsten Tag zu einer Stadtführung in seinem Auto ab.

Ein ellenlanger Bombensplitter und hunderte Seiten Dokumente füllen Harry Julichs hellbraune Aktentasche. Sein Vater, ein Kesselschmied, war Kommunist und wurde 1933 von den Nationalsozialisten in die sogenannte Schutzhaft genommen. Heute geht der gelernte Ingenieur Harry Julich mit seiner schweren Tasche in Schulklassen, um den Schülern über die Nazizeit zu erzählen. Heute stellt Julich die Tasche auf die Bierbank am Wahlfahrt09-Stand und beginnt.

Vor 13 Jahren begann der jetzt 83-Jährige mit seiner Aufklärungsmission. “Die Jugendlichen haben Hakenkreuze und SS-Runen an die Wände geschmiert. Das hat die ganze Stadt empört. Werden da junge Nazis wieder rangezüchtet? Das ist doch eine Schande.” Harry Julich glaubt an die überzeugende Kraft des Arguments. Er will den jungen Eisenhüttenstädtern Geschichte anschaulich vermitteln. Ein wenig Stolz schwingt mit, als er sagt: “Heute gibt es keine Schmierereien mehr!”

Das Alter hat den 83-jährigen ein wenig vorn über gebeugt, aber hinter den Brillengläsern kommt aus blassblauen Augen ein wacher, eigensinniger Blick. In einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, ist Julich früh und aus Überzeugung in die Partei eingetreten. Dazu gehörte für ihn auch die Diskussion um die Linie der Partei. Julich arbeitete als Assistent des technischen Direktors vom EKO. Seine Kommentare über die Politik der SED zogen das Mißtrauen der Genossen auf sich. Heute weiß Julich, dass seine Stasiakte 160 Seiten zählt.

“Ich habe auf die Worte der Partei gehört und habe dann etwas anklingen lassen, was einigen Leuten mißfallen hat. Diejenigen, die in meiner Akte geschrieben haben, kenne ich. Da waren 13 muntere Vögel über mir.“ Die Vögel waren Kollegen, Freunde und Bekannte.

Akte JulichAm nächsten Tag lädt Julich zu einer Stadtrundfahrt ein. Erster Stopp ist das Rathaus, ein brauner, abweisender Klotz am Ende der Lindenallee. Früher war hier das Haus der Parteien und Massenorganisationen untergebracht, hier mußte Julich das Urteil seines Parteistrafverfahrens entgegen nehmen. Nur mit viel Bücken sei er aus der Situation einigermaßen glimpflich wieder herausgekommen, sagt er später. Das Gehalt sei gleich geblieben, aber Julich wurde gemobbt. Bekannte und Kollegen zogen sich zurück. Im Fernstudium bildete er sich zum Stahlwerksingenieur weiter, sagt Julich: „Aber mein Gehalt ist nie mehr angestiegen“.

Langsam fährt Julich durch die ehemalige Werkssiedlung des Eisenhüttener Stadtteils Holzhausen. Von Blumen gesäumte Einfahrten führen zu gepflegten Einfamilienhäusern aus Holz. Die EKO-Direktoren und Abteilungsleiter wohnten wie in Wiesbaden, von Platte keine Spur. Auch sein ehemaliger Chef wohnte hier.

Nach der Wende hat Julich alle ehemaligen Spitzel persönlich konfrontiert. Zu jedem sagte er: „Du Stasispitzelschwein.“ Nur einer antwortete: „Harry, kannst du mir das verzeihen?” Julich schüttelt enttäuscht und leicht angewidert den Kopf. „Harry, ich war das nicht. Willst du denn dein Geschreibsel lesen? Wir haben dir doch nicht geschadet“, erinnert er sich an die Reaktionen. „Insgesamt haben sie mir aber geschadet, diese Stasispitzelschweine.“

Julich ist immer noch ein wenig der Querkopf der Stadt. Manch einem in der Stadt scheint sein freimütiger Umgang mit der Stasivergangenheit nicht zu schmecken. Neulich habe er abends einen Anruf erhalten. Der Anrufer nannte seinen Namen nicht, drohte: “Sag nichts mehr über diese Sachen, zeig die Akte nicht vor!” Die Stasi sei ein Tabu in Eisenhüttenstadt, sagt Julich. Bis heute seien alte Seilschaften erhalten, würden sich ehemalige Parteitreue gegenseitig unterstützen.

Julich wird seine Akte weiter vorzeigen.

 

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