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Wahlentscheidung an der Panzerfaust

21.09.2009 20:49, C. Salewski
Wismar_DrSschmidt

Foto: Milos Djuric

WISMAR. Der Tag, an dem sich für Joachim Schmidt entschied, wie er bei der Bundestagswahl 2009 abstimmen wird, liegt 64 Jahre zurück. Ein Wintermorgen 1945. Der 17-jährige Joachim Schmidt gräbt sich mit seinen Kameraden der Panzeraufklärungsabteilung Sechs an einem Waldrand in der Nähe von Dortmund ein. Späher haben am Vorabend kanadische Panzer gesichtet. Sie nähern sich schnell. Der Kompanieführer hält eine Rede. Die üblichen Durchhalteparolen. Schmidt hat Angst. Bisher kennt er den Feind nur in Form von Bomberflotten weit oben am nächtlichen Himmel.

Als Flakhelfer hatte man ihn ein Jahr zuvor aus dem Gymnasium heraus verpflichtet und nach Emden befohlen, genau in die Einflugschneise der Alliierten. Jeden Tag Alarm, häufig mehrfach. „Vom Bett an die Kanone in drei Minuten“, sagt Schmidt. Mit ihm kämpfen Kriegsgefangene der Roten Armee, die sich freiwillig gemeldet haben, um den furchtbaren Bedingungen der normalen Gefangenschaft zu entgehen. Nazis und Kommunisten feuern gemeinsam auf Alliierte. „Die Welt der Absurdität begann für mich eigentlich schon damals“, sagt Schmidt heute.

Als die kanadischen Panzer den Waldrand erreichen, ist alles schnell vorbei. Ein Gefecht zwischen den deutschen Gymnasiasten und den schwer bewaffneten Kanadiern kommt gar nicht erst zustande. Die deutsche Stellung wird einfach überrollt. „Ich habe meine Panzerfaust nicht abgefeuert, ich bin ja nicht bekloppt“, sagt Schmidt und tippt sich dabei mit dem Zeigefinger an die Stirn. Als er gefangen genommen wird, schwört er sich: Du fasst nie wieder ein Gewehr an. Daran hat er sich gehalten.

Pazifisten sind naiv, sagt die Politik

64 Jahre später sitzt Joachim Schmidt auf dem Marktplatz von Wismar und erklärt, nach welchen Kriterien er entscheidet, wen er wählen wird. „Aus meiner Biographie heraus ist für mich die Hauptfrage: Krieg oder Frieden? Ich bin gegen jede Gewaltanwendung.“ Erst vergangene Woche habe die Bundeswehr hier auf dem Platz einen Informationsstand aufgebaut. „Das ist wie bei uns 1943“, sagt Schmidt. Damals seien die Offiziere in die Schulen gekommen, um für die Wehrmacht zu werben, heute suche die Bundeswehr Nachwuchs für die Auslandseinsätze. Für den 82-Jährigen ist klar: „Wenn ich wähle, dann nur eine Partei, die Afghanistan beendet.“

Es gibt nicht wenige Leute, die würden solche Ansichten als etwas naiven Pazifismus abtun. Im Grunde sind alle Spitzenpolitiker der im Bundestag vertretenen Parteien solche Leute, mit Ausnahme der Linken. Für Joachim Schmidt ist der Pazifismus indes eine tiefe Überzeugung. Und er ist alles andere als politisch naiv.

Als Schmidt 1947 aus belgischer Kriegsgefangenschaft entlassen wird, geht er nach Wismar, weil dort Verwandte leben. 1950 macht er Abitur. Sein Vater ist Schuhmacher, also darf er studieren. „Das war so ein Extra-Programm für Arbeiter- und Bauernkinder“, sagt Schmidt. Er schreibt sich für Altphilologie ein, studiert etwas Philosophie und landet schließlich in der Germanistik. Er promoviert, wird Assistent am pädagogischen Institut. Dann ist Schluss, obwohl er in der SED ist. In seiner Stasi-Akte steht, er sei loyal, habe aber sozialdemokratische Ansichten. „Wenn man Professor werden wollte, musste man schon sehr nah an der Partei dran sein“, sagt Schmidt. Also arbeitet er fortan beim „Kinderbuch-Verlag“ in Berlin. Wie die meisten ostdeutschen Verlage wird auch dieser nach der Wende abgewickelt. Die wertvollen Lizenzen kaufen westdeutsche Verlage auf. Schmidt wird 1992 pensioniert.

Schnelle Urteile wird man von ihm nicht hören

Wenn Schmidt über die heutige Politik spricht, dann meist abfällig, aber theoretisch fundiert. Dass Barak Obama eine „demokratische Massenbewegung“, wie er es nennt, in Gang setzen konnte, fasziniert ihn. Vor allem, weil er damit das Urteil Hannah Arendts über die Radikalität der US-amerikanischen Verfassung bestätigt sieht. Ein Wort, das er häufig benutzt ist „differenziert“. Leute, die ihn beeindrucken, nennt er „hochgradig differenziert“. Es ist die höchste Auszeichnung, die er zu vergeben hat. Schnelle Urteile wird man von ihm nicht zu hören bekommen.

Heute wohnt Joachim Schmidt in einem Altersheim um die Ecke, „zwischen 80 Prozent Demenzkranken“, wie er sagt. Er selbst hält sich geistig fit, indem er zu Literatur-Lesungen geht und zum Philosophie-Kreis des Pastors. Er liest auch im hohen Alter viel: Bücher, philosophische Aufsätze, Zeitungen, auch wenn ihm selbst in der ZEIT oder der Süddeutschen Zeitung die Sprache und die Analyse oft zu spärlich, zu floskelhaft, zu undifferenziert ist.

Dr. Joachim Schmidt wird am 27. September wählen gehen. Er weiß über die Themen auf der politischen Agenda Bescheid, kennt die Argumente und die Programme der Parteien. Die Sonne verschwindet schon langsam hinter den hanseatischen Fassaden, als er sagt: „Es gibt heute Leute, die sind stolz darauf, dass ihre Söhne nach Afghanistan gehen.” Nach einer kurzen Pause schiebt er nach: „Damals waren die Toten auch alle Helden.“

 

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