Wahlfahrt09 » Integration http://www.wahlfahrt09.de Mon, 03 May 2010 15:28:35 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.2.1 “Integration zur Normalität machen” http://www.wahlfahrt09.de/orte/integration-zur-normalitat-machen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=integration-zur-normalitat-machen http://www.wahlfahrt09.de/orte/integration-zur-normalitat-machen/#comments Fri, 11 Sep 2009 21:43:37 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=2487

Duisburg_Buergermeister

Foto: Milos Djuric

DUISBURG. Der Ruhrpott ist rot, Duisburg hat trotzdem einen CDU-Bürgermeister: OB Adolf Sauerland wurde am 30. August mit 44,6 Prozent im Amt bestätigt, viele mögen ihn und seine joviale Art – er fährt Motoroller statt Auto und hat im seinem Büro ein übergroßes Flugzeug-Modell der Boeing 747 namens “Duisburg”. Noch lieber zeigt er aber ein kleineres Modell des doppelstöckigen Airbus A380, der bald den gleichen Namen tragen soll.

Sie müssen als Duisburger Bürgermeister auch mit SPD-Kollegen zusammenarbeiten. Wie kommen Sie denn miteinander klar?

Ach, mit den Kollegen komm ich gut aus, aber da spielt auch die Parteipolitik kaum eine Rolle. Die Aufgabenstellung ist in den meisten Städten ähnlich. Da ist nicht viel Platz für Ideologien. Manche Städte haben noch Geld dafür, etwa Düsseldorf, aber wir schon lange nicht mehr.

Die rote Vergangenheit des Ruhrgebiets hat sich also erledigt?

Es gibt keine Stammwählerschaft mehr. Davon müssen sich alle Parteien freimachen, zumindest in der Kommunalpolitik ist das so. Natürlich gibt es Potenziale, die wir ansprechen müssen, und da ist Duisburg ohne Frage eine SPD-Stadt. Aber die SPD hat in Duisburg große Probleme, dieses Potenzial kommunalpolitisch in Wähler umzusetzen. Die Analyse sagt, dass die SPD 30% ihres Wählerpotenzials aktiviert hat, die CDU 70%. Und deswegen sind wir ungefähr gleich stark.

Aber die CDU hat gerade ihre Mehrheit im Stadtrat verloren…

Ja, aber auf was für einem Niveau! Ich mache Kommunalpolitik seit gut 30 Jahren, und dieses Niveau hätte ich mir damals nicht vorstellen können! Wir hatten damals immer knapp über zwanzig Prozent. Aber keine Frage, natürlich haben wir uns bei der letzten Wahl mehr versprochen.

Wie mobilisieren Sie?

Durch direkte Ansprache auch außerhalb des Wahlkampfes. Gerade ist Ramadan, und im Wahlkampf waren da viele Kommunalpolitiker unterwegs. Jetzt, seit den Wahlen am vergangenen Sonntag, bin nur noch ich unterwegs. Die Menschen wollen keinen Wahlkampf, sondern permanente Präsenz und Kommunikation mit der Politik. Und das wurde auch honoriert.

In Marxloh war das Ergebnis nicht so gut. Was muss die CDU dort machen?

Die Gegebenheiten des Ortes gut darstellen. In Obermarxloh wurde gesagt, das Ergebnis sei eine Katastrophe, und man kritisierte mich, weil ich mich angeblich zu sehr mit Türken zeige. Aber mein Ergebnis war dort 13 Prozent besser als das der CDU. Wer hat da Recht?

Also fremdelt die CDU mit Ihrer Integrationspolitik?

Was die CDU in fünf Jahren an Integration dazugelernt und an Potenzial entwickelt hat, ist schon enorm. Man sollte die Leute auch nicht überfordern. Jetzt haben wir sechs Jahre Zeit, das weiter zu entwickeln. Da wird sich einiges tun. Nordrhein-Westfalen hat jetzt einen Integrationsminister – das ist in der CDU nicht allen vermittelbar, aber es ist ein Zeichen! Das braucht alles etwas Zeit, aber wir sind auf einem guten Weg. Da sind für die CDU in Städten wie Duisburg richtig große Potenziale.

Welche Vorstellungen haben Sie für Duisburg, die Sie von der SPD abheben?

Wir müssen aus der Struktur einer Montanstadt raus. Aus Nostalgiegefühlen ist das okay, aber es ist nicht die Zukunft dieser Stadt. Die liegt auf anderen Feldern. Stahl ist wichtig für Duisburg, aber da wird es in Zukunft keine weiteren Arbeitsplätze geben. Wir müssen unsere Stadt attraktiver machen, uns zu einer Dienstleistungsstadt wandeln. Städtetourismus ist wichtig, das wird im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 zum Thema. Das sind die Märkte der Zukunft.

Welches Projekt haben Sie als Oberbürgermeister im Auge?

Integration zur Normalität machen. Integration ist kein Problem, es ist ein Potenzial. Ein Problem sind die fehlenden Deutschkenntnisse. Seit fünf Jahren schicken wir Deutschlehrer in die Schulen, das sind meist türkischstämmige Jugendliche, Lehramtsanwärter, die auch die Sprache der Kinder sprechen. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass durch diese Sprachförderung nicht nur die Deutschnoten besser werden, sondern auch die in allen anderen Fächern. Jetzt verstehen sie, worüber in Mathematik geredet wird!

Und wie gehen Sie die Probleme in Stadtteilen wie Marxloh an?

Wenn Sie in Marxloh waren, am Bebelplatz, gucken Sie sich mal um. Einfach mal die Augen aufmachen, was sehen Sie da? Wer sitzt da in den Problemecken? Und wer nicht? Dann kommen Sie zu Erkenntnissen, die will ich Ihnen jetzt nicht vorwegnehmen – die sind schon interessant. Und so ist der Bezirk aufgestellt. Wenn ich das jetzt sagen würde, gibt es nur Kartoffeln von denjenigen, die die Wahrheit nicht hören wollen.

Können Sie es noch etwas mehr andeuten?

Wir haben die junge Bevölkerung. Wir haben die alte Bevölkerung. Und wir haben eine hoch sozial schwache Bevölkerung. Und gucken Sie sich das mal an, wer welchen Hintergrund hat. Mit oder ohne Migrationshintergrund. Sie werden das sofort sehen. Wir waren mit dem WDR da, die haben das gefilmt. Und haben über die Probleme von Migranten in Marxloh gesprochen, und ich habe denen gesagt: Gucken Sie sich das einfach nur mal an. Welches Problem sehen Sie hier?

[Anm. d. Red: Wir sind dieser Frage mit einem Video nachgegangen, offenbar meinte OB Sauerland, dass nicht die Migranten, sondern arbeitslose Deutsche das Problem darstellen]

Wie wollen Sie diese Leute noch mitnehmen?

Wir müssen die mitnehmen! Wir müssen versuchen, Angebote so zu gestalten, dass die nicht sich übergangen sehen, dass die nicht Outsider der Gesellschaft sind. Da brauchen wir staatliche Angebote, da brauchen wir Gelder, um die mitnehmen zu können. Und wir brauchen eine Diskussion um Sozialgesetzgebung. Aber die muss ich nicht führen, das müssen die im Bundestag machen.

Interview: Lena Brochhagen, Malte Göbel

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Auf der Suche nach Problem-Ecken in Duisburg-Marxloh http://www.wahlfahrt09.de/orte/problem-ecken-in-duisburg-marxloh/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=problem-ecken-in-duisburg-marxloh http://www.wahlfahrt09.de/orte/problem-ecken-in-duisburg-marxloh/#comments Fri, 11 Sep 2009 16:47:48 +0000 JC Kage http://www.wahlfahrt09.de/?p=2612 DUISBURG. Der Duisburger Oberbürgermeister sprach im Interview mit Wahlfahrt-Reporter Malte Göbel in kryptischen Andeutungen über “Problem-Ecken” in Marxloh – die Probleme dort würden offensichtlich, wenn man nur hinsehe, wer da so sitze und wer nicht. Also gingen wir hin und fragten nach.

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Herr Grün und die Roten http://www.wahlfahrt09.de/menschen/herr-grun-und-die-roten/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=herr-grun-und-die-roten http://www.wahlfahrt09.de/menschen/herr-grun-und-die-roten/#comments Fri, 11 Sep 2009 13:54:26 +0000 Jan Patjens http://www.wahlfahrt09.de/?p=3043 Duisburg_Rainer_Gruen

Foto: Milos Djuric

DUISBURG.Aus Frust über die großen Parteien haben Deutsch-Türken in Duisburg einen eigenen Wählerverein gegründet. Sie wollen Menschen aus Zuwandererfamilien für die Politik gewinnen – und stellen fest, das ist nicht immer einfach.

Richtige Wahlkampfstimmung will nicht aufkommen an diesem Septembermorgen in der Friedrich-Engels-Straße in Marxloh. Schräg gegenüber der Marktklause haben ein paar ältere Männer von der SPD einen Infostand aufgebaut, es gibt Würstchen und rot-weiße Kugelschreiber. Der Bundestagsabgeordnete Johannes Pflug kämpft im Wahlkreis Duisburg II um ein Direktmandat. Doch das Interesse der Passanten hält sich in Grenzen. Und die CDU ist gar nicht erst gekommen, sehr zum Ärger der Genossen.

Marxloh, ein Stadtteil im Norden Duisburgs. Bundesweit bekannt wegen seiner Moschee, der größten in Deutschland, vor knapp einem Jahr eröffnet. Jeder Dritte der rund 18000 Einwohner stammt aus einer Migrantenfamilie. Man hat den Stadtteil mit Berlin-Neukölln verglichen und als Ghetto bezeichnet, als ein bedürftiges, von Arbeitslosigkeit und politischer Apathie geprägtes Problemviertel. Marxloh wurde zur „Chiffre für eine deutsche Banlieu“.

Marxloh ist mehr als eine deutsche Banlieu

Doch die Wirklichkeit ist vielschichtig, anders als das Klischee. In der Weseler-Straße, der Hauptstraße von Marxloh, gibt es sie zwar, die schmutzigen Gründerzeitfassaden, Wettbüros und Spielhallen, die Döner-Imbisse und dunklen Kneipen mit aschgrauen Gardinen. Aber es gibt hier eben auch prächtige Geschäfte für Brautmoden, Juweliere und Schuhläden, Ärzte und Apotheken mit türkischen Namen. Sie stehen für den neuen Mittelstand im Viertel.

Und noch etwas passt nicht in das Bild vom Problembezirk: Die Merkez-Moschee in Marxloh wurde ganz ohne Streit geplant und gebaut. Anders als in Köln, Frankfurt oder Berlin gab es hier keine Proteste der Anwohner und keine grundsätzlichen Bedenken. Vom „Wunder von Marxloh“ war deshalb die Rede.

Ein Wunder war es wohl nicht, eher ein Beispiel für Integration: Im Vorstand der Moschee sitzen Angehörige einer jungen Generation, pragmatische Deutsch-Türken, die im Ruhrgebiet aufgewachsen und beruflich erfolgreich sind. Den Bau der Moschee haben vor allem Frauen im Alter von 30 bis 40 Jahren vorangebracht. Sie setzten sich für einen Beirat ein, dem Vertreter christlicher Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Nachbarn angehörten. Und für ein Begegnungszentrum, das allen offen steht.

Am Infostand der SPD kann man an diesem Morgen indes auch beobachten, dass es nicht immer so gut klappt mit dem Dialog zwischen Deutschen und Migranten. Und das liegt nicht nur daran, dass Berlin und der Bundestag weit weg sind. Auch bei den Kommunalwahlen Ende August hat in Marxloh gerade mal jeder vierte Wahlberechtigte seine Stimme abgegeben, Negativrekord in Duisburg. Oft ist im Stadtteil der Satz zu hören, die Migranten interessierten sich doch eh nicht für Politik.

Migranten für Politik begeistern

Schon wieder ein Klischee? Rainer Grün, 41, ist einer, der es wissen muss. Er ist Vorsitzender der „Duisburger Alternativen Liste“ (DAL), einer Wählervereinigung, die Migranten für die Politik gewinnen und ihre Interessen in der Kommunalpolitik besser zur Geltung bringen will. Sein Vater stammt aus der Türkei, seine Mutter aus Deutschland. Grün arbeitet als Wachmann und kommt gerade von der Nachtschicht. Es ist kurz nach zehn, Zeit für einen Feierabend-Tee in einem Döner-Grill an der Weseler Straße – und für ein Gespräch über Politik.

Im Wahlkampf habe er gemerkt, wie schwierig es sei, Migranten für Politik zu begeistern, sagt Grün: „Hier haben viele verinnerlicht, dass sie ‚Ausländer’ sind, sie fühlen sich nicht als Bürger.“ Außerdem trauten die meisten den Parteien nicht mehr zu, die Probleme zu lösen. Nach wie vor würden türkischstämmige Menschen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt diskriminiert, es fehle an Unterstützung für Vereine und an Angeboten für Jugendliche. „Die Resignation ist riesengroß, da ist es nicht leicht, die Leute zum Wählen zu bewegen.“

Als Spitzenkandidat der DAL hat Rainer Grün das selbst zu spüren bekommen. Nur 1,1 Prozent der Stimmen hat die Wählervereinigung bei den Kommunalwahlen in Duisburg gewonnen – das reicht immerhin für ein Mandat im Stadtrat. So wird Grün nun erstmals in das Gremium einziehen, er könnte also zufrieden sein. Doch die Enttäuschung über das schlechte Abschneiden seiner Liste überwiegt.

Trotz urdeutschem Namen auf hinterem Listenplatz

Es ist nicht die erste Enttäuschung für Grün. Als er im Jahr 2004 gemeinsam mit zwanzig anderen Duisburgern die DAL gründete, trieb ihn vor allem der Frust über die Parteien an. Grün war viele Jahre SPD-Mitglied, ein „aktiver Funktionär“, wie er sagt. Die Genossen an der Basis hätten ihn allerdings nicht recht zum Zug kommen lassen: „Ich durfte zwar Pöstchen bekleiden und Plakate kleben, wenn es aber um politische Ämter ging, war für mich Schluss.“ Die Altgedienten hätten nichts von ihrer Macht abgeben wollen, er sei nicht nach Leistung, sondern nach seiner Herkunft beurteilt worden. „Trotz meines urdeutschen Namens“, sagt Rainer Grün.

Ähnlich erging es anderen Gründungsmitgliedern der DAL, zum Beispiel Gürsel Dogan: Er war lange in der CDU, kehrte der Partei aber den Rücken, als sie ihn vor der Ratswahl 2004 auf einen aussichtslosen Listenplatz setzen wollte. „Wir hatten keine Chance, und das ausgerechnet in Duisburg“, sagt Grün. Die Parteien trügen selbst dazu bei, dass Migranten sich von ihnen abwendeten.

Dabei müssten die Parteien eigentlich großes Interesse an Leuten wie Rainer Grün haben. Rund 700.000 türkischstämmige Wähler gibt es in Deutschland, fast jeder Fünfte Einwohner ist zugewandert oder ein Kind oder Enkel von Migranten. In manchen westdeutschen Großstädten wird in einigen Jahren die Hälfte der Jungwähler aus Migrantenfamilien stammen.

Integration ist Randthema im Wahlkampf

Kein Wunder also, dass die Parteien um Zuwanderer werben und sie offiziell willkommen heißen. Spitzenpolitiker wie Cem Özdemir und Lale Akgün, Bülent Arslan und Hakki Keskin sollen Migranten ansprechen. Die Förderung von Integration steht in allen Parteiprogrammen – immerhin ist das Thema in der Bildungs-, Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik von entscheidender Bedeutung.

Doch im Bundestagswahlkampf spielt Integration kaum eine Rolle. Für Schlagzeilen sorgte allein Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, als er bei einem Wahlkampfauftritt in Duisburg rumänische Arbeiter beschimpfte: Die kämen nicht pünktlich zur Schicht und wüssten nicht, was sie tun.

Und an der Parteibasis stoßen Migranten oft auf Ablehnung, sie haben es schwer, attraktive Listenplätze zu ergattern. Im Bundestag sitzen derzeit fünf türkischstämmige Abgeordnete, zur Zeit der rot-grünen Koalition waren es sogar nur zwei. In diesem Jahr kandidieren zwar mehr als zwei Dutzend Deutsch-Türken für den Bundestag, die meisten von ihnen rangieren jedoch auf hinteren Listenplätzen und haben kaum Aussicht auf ein Mandat.

Ein Drittel Migranten, ein Sechstel migrantische Abgeordnete

In Duisburg sieht es ganz ähnlich aus. Ein Drittel der knapp 500.000 Einwohner hat hier einen so genannten Migrationshintergrund, im Stadtrat sind derzeit jedoch nur fünf von 74 Abgeordneten türkischer Herkunft. Einer von ihnen ist Gürsel Dogan, jener Kommunalpolitiker, der die CDU 2004 verlassen hatte und als DAL-Kandidat ein Mandat gewann. Er schloss sich bald der CDU-Ratsfraktion an und trat seiner alten Partei wieder bei. In seinem Wahlkreis Duisburg-Hochfeld ist er vor zwei Wochen direkt gewählt worden.

Eine kleine Erfolgsgeschichte, keine Frage. Dem neuen Stadtrat werden nun immerhin acht Abgeordnete aus Zuwandererfamilien angehören. Und zur Bundestagswahl tritt in Duisburg wenigstens ein Direktkandidat türkischer Herkunft an: Hüseyin Aydin von den „Linken“. „Die Situation hat sich etwas verbessert“, sagt Rainer Grün, „einige Parteimitglieder haben ihre Lektion gelernt.“ Das sei auch ein Verdienst der DAL.

Im Stadtrat will Grün, der ehemalige Sozialdemokrat, nun den CDU-Oberbürgermeister unterstützen. „Wir haben uns zwar aus Protest gegründet, wollen aber konstruktiv Politik machen“, sagt er. Und registriert mit Genugtuung, dass die Ratsfraktionen jetzt um seine Stimme werben.

Schnellboot der Migration in die Politik

Dennoch wollen Grün und die DAL weiter gegen die Politik- und Parteienverdrossenheit vieler Migranten kämpfen. „Keine Integration ohne Mitbestimmung“ lautet einer ihrer Slogans. „Wir wollen Leute aus der Basis ins Rathaus schicken, wir sind das Schnellboot der Migration in der großen Politik“, sagt Grün und klingt fast schon wie ein Berufspolitiker. Mittlerweile hat die Wählervereinigung 25 Mitglieder, darunter sind viele Frauen. Fast alle sind Deutsch-Türken, obwohl man keine reine Migrantenliste sein will und auch ein deutscher Arzt dabei ist. „Dal“ ist das türkische Wort für Ast. „Wir wachsen“, sagt Grün, „und man kann sich an uns festhalten.“

Fragt man Abdullah Küҫük, warum er sich für die DAL engagiert, dann sagt er: „Ich bin Deutscher, gelte hier aber immer noch als ‚Ausländer’. Das will ich mal abschaffen.“ Küҫük, 36, ist in Duisburg geboren und in Marxloh aufgewachsen. Er hat bei Thyssen eine Ausbildung zum Verfahrenstechniker gemacht und arbeitet heute im Stahlwerk Hamborn. „Viele meiner Freunde haben studiert, einige sind Ärzte oder Geschäftsleute geworden“, sagt er. „Wir stehen für gelungene Integration, die Parteien verwenden nur das Wort.“ Auch in der Bundespolitik dienten ihnen türkischstämmige Abgeordnete oft nur als Aushängeschild.

Abdullah Küҫük hat bei den Kommunalwahlen in Alt-Hamborn kandidiert, seine Frau Ebru, 28, trat in Marxloh an. Ein Mandat für die Bezirksvertretung haben beide nicht gewonnen. Doch das sei auch gar nicht so wichtig, sagt er. Es gehe ihm vor allem darum, dass Menschen türkischer Herkunft überhaupt wahrgenommen würden, auf allen Ebenen der Politik. „Geh’ zur Wahl!“, das sei der wichtigste Appell der DAL.

Bockwurst statt Baklava

In der Friedrich-Engels-Straße haben die Genossen ihren Stand inzwischen wieder abgebaut. Die SPD habe überhaupt keine Schwierigkeiten, mit Migranten ins Gespräch zu kommen, sagt einer. „Wir haben auch selbst welche dabei, das entwickelt sich schon.“ Sicher ist, dass die großen Parteien es sich immer weniger leisten können, die Gruppe der Migranten zu vernachlässigen. Und vielleicht hilft es ja schon ein bisschen, wenn der SPD-Ortsverein im nächsten Bundestagswahlkampf nicht nur mit Bockwurst, sondern auch mit Baklava auf Wählerfang geht.

Rainer Grün jedoch kann es sich vorerst nicht vorstellen, zu den Roten zurückzukehren.

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Wenn Brautkleid, dann Marxloh http://www.wahlfahrt09.de/orte/wenn-brautkleid-dann-marxloh/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wenn-brautkleid-dann-marxloh http://www.wahlfahrt09.de/orte/wenn-brautkleid-dann-marxloh/#comments Fri, 11 Sep 2009 11:08:56 +0000 Lena Brochhagen http://www.wahlfahrt09.de/?p=3033 Duisburg. Duisburg-Marxloh ist klar spezialisiert: Gefühlt jedes zweite Geschäft verkauft Brautmode, und das nicht nur in Weiß. Für ihre Auswahl ist die Weseler Straße im Stadtteil Marxloh überregional bekannt, dafür sorgt Werbung im türkischen Fernsehen. Aus Berlin, den Niederlanden und sogar der Türkei kommen Kunden.

Als wahlfahrt09.de in der Fußgängerzone Station macht, haben gerade wieder zwei neue Geschäfte eröffnet. Einige Anwohner klagen, sie bräuchten endlich einen Bücherladen, kein weiteres Hochzeitsgeschäft, auch wenn die in leer stehende Läden kommen. Doch für die Brautmodenverkäufer ist die Monostruktur ein klarer Erfolgsfaktor. Eine Umfrage in Brautmode-Geschäften.

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Foto: Lena Brochhagen

Zehra Sahin, Verkäuferin im Brautmodengeschäft „Bayar“:

„In Deutschland ist Marxloh der Ort für Brautkleider. Wenn man ein Brautkleid braucht oder Abendmode oder Herrenmode, dann weiß man: Okay, wir fahren nach Marxloh. Die Kunden kommen sogar aus der Türkei. Es gibt hier so viele Läden, da hat man eine große Auswahl.

Deutsche wollen eher einfache Brautkleider, Türken mehr etwas Pompöses, Ausgefallenes – aber da ist auch jeder anders. Das Kleid muss aber immer einmalig sein.“

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Foto: Lena Brochhagen

Hülya Seren, Verkäuferin im Brautmodeladen „Topkapi”

„Gerade sind cremefarbene Kleider in Mode. Wir verkaufen auch Zubehör wie weiße Kopftücher. Die kann sich die Braut beim Friseur legen lassen. Auch viele Deutsche kommen hierher, die haben eigentlich den gleichen Geschmack wie Türken. Letztens sind auch Touristen gekommen, aus Japan glaube ich, die wollten sich den Laden angucken. Ich hatte vorher einen klaren Wunsch, wie mein Brautkleid aussehen soll, aber jetzt, weil ich hier arbeite, komme ich ganz durcheinander – ich weiß gar nicht, was ich kaufen soll.“

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Foto: Lena Brochhagen

Nagihan Güner, Verkäuferin im Brautmodengeschäft „Ophelia“

„Das Geschäft läuft in Marxloh sehr gut, auch wenn es viel Konkurrenz gibt. Am Wochenende kommen sehr viele Leute, die meisten aus den Niederlanden. So viele Geschäfte auf einen Fleck gibt’s nirgendwo in Deutschland. Das spricht sich rum. Es kommen auch viele Deutsche. Die sind sehr zufrieden mit dem Service.“

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Foto: Lena Brochhagen

Özlem Ülger, Inhaberin des Negligee-Geschäfts „özgül“

Ich verkaufe Unterwäsche für die Brautmode und die traditionellen gegenseitigen Geschenke zur Verlobung. Die Bräutigamseite muss der Braut ein Negligee-Set holen, plus Unterwäsche, Schminkartikel. Auch die Schwiegereltern bekommen etwas. Die Bräutigam-Seite muss mit 180 bis 240 Euro Kosten rechnen, die Brautseite zahlt weniger. Mein Geld verdiene ich mit den Kunden von außerhalb. Wären hier nur Leute aus Duisburg, hätte ich längst dicht gemacht.

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Foto: Lena Brochhagen

Esra Kunt, Verkäuferin im Brautmodengeschäft „White Lady Design“
„Wir produzieren unsere Kleider selbst. Die Mutter unseres Chefs ist unsere Designerin. Die Fabrik ist in Izmir. Die Kleider bei uns sind besser als Produkte aus China, da sind die Stoffarten nicht so gut. Man merkt die Qualität auf den ersten Blick, den Stoff, wenn man es anfasst.
Wenn man Brautmode sagt, kommt direkt in Gedanken ‚Marxloh’. Unser wichtigster Tag ist der Samstag, da kommen die Leute aus bis zu 400 Kilometern.“

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Die Start-Up-Migrantinnen http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-start-up-migrantinnen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-start-up-migrantinnen http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-start-up-migrantinnen/#comments Fri, 11 Sep 2009 08:21:45 +0000 Lena Gürtler http://www.wahlfahrt09.de/?p=3510 Duisburg_Brautmode-2Foto: Milos Djuric

ESSEN/DUISBURG. Ihre Wurzeln sind in der Türkei, Polen oder dem Iran. In Deutschland sind sie erfolgreiche Unternehmerinnen. Viele Frauen mit Zuwanderungsgeschichte sind selbstständige Unternehmerinnen – richtig wahrgenommen wird ihr Erfolg kaum.

Sie sind auf der Suche nach ihrem ganz eigenen Satz. In einem türkischen Restaurant in Essen sitzen 18 Frauen in einem Seminarraum, senken ihre Blicke auf kleine Zettel und hoffen, dass die Workshop-Leiterin sie nicht als Erste dran nimmt. “Reden. Begeistern. Überzeugen”, heißt das Seminar. Aufgabe eins: sein Unternehmen und sich selbst in einem Satz präsentieren. “Ich bin 43 Jahre, Mutter von zwei Kindern und Bilanzbuchhalterin”, sagt eine Frau. Sie ist zu spät gekommen, hat die Einführung verpasst. Und die Workshopleiterin korrigiert sie gleich:  “Wir vermarkten uns doch mit! Was interessiert es Ihre Geschäftspartner, wie viele Kinder Sie haben?” Die Frauen lachen. Sie tragen Absatzschuhe, Kostüme, weiße Blusen oder Hosenanzüge und machen nicht den Eindruck, als würden ihnen solche Anfängerfehler im Geschäftsalltag unterlaufen. Eine ist die erste türkische Steuerberaterin in Duisburg gewesen, eine andere ist Schuh- und Tascheneinkäuferin für eine deutschlandweit bekannte Kette, neben ihr sitzt eine Frau, die Unternehmen bei ihrer Expansion nach Rumänien berät.

Das Business-Netzwerk für Migrantinnen “Petek” organisiert den Workshop. Als acht Unternehmerinnen das Netzwerk 2005 gründeten, waren sie nach eigenen Angaben in Deutschland die ersten Migrantinnen, die mit einem eigenen Netzwerk auf ihren unternehmerischen Erfolg aufmerksam machen wollten. Und das, obwohl Migrantinnen öfter Unternehmen gründen als deutsche Frauen. Häufig gezwungenermaßen, denn sie sind auch öfter arbeitslos und haben Probleme mit der Anerkennung ihrer ausländischen Abschlüsse. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es  40.000 selbstständige Frauen mit Zuwanderungsgeschichte – wie es im Ministerium für Frauen- und Integration heißt. Dazu zählen auch die Töchter der Einwanderinnen. 17.000 dieser Unternehmerinnen haben einen deutschen Pass, doch als Wählerpotenzial scheinen deutsche Politiker die Frauen noch nicht entdeckt zu haben. “Bei mir hat sich während des Wahlkampfs kein Politiker gemeldet”, sagt Birnur Öztürk, die Vorsitzende von Petek. Wie die Anderen grübelt auch sie an diesem Abend über den perfekten Vorstellungssatz für ihr Vertriebsbüro.

Tülay Polat hat ihn schon gefunden: “Ich führe die Kommunikation Ihres Unternehmens ins digitale Zeitalter”, sagt sie ohne Zögern und Rotwerden. Mit ihrem Startup-Konzept für ein multikulturelles Anzeigenportal hat sie vor vier Jahren den ersten Preis eines Gründerwettbewerbs gewonnen. Doch an der Umsetzung ist sie gescheitert. “Damals wollte ich wie Ebay oder Amazon werden, jetzt hat es sich anders entwickelt, und das ist auch gut”, sagt Polat. Sie hat nicht aufgegeben. Inzwischen designt sie Onlineauftritte, bietet interkulturelles Marketing an. Wieder als selbstständige Unternehmerin. Ihre türkischen Wurzeln seien kein Hindernis für sie gewesen: “Gründerin ist Gründerin. Für Frauen ist das generell schwieriger als für Männer.” Letztlich sei es eine Frage des Bildungsniveaus. Wahrscheinlich aber auch eine Frage des Integrations-Levels: Die 37-jährige Polat hat zwar schwarze Haare und dunkle Augen, aber auch einen ausgeprägten fränkischen Akzent. Nach dem Abi in Hof hat sie BWL in Duisburg studiert.

Über den klassischen deutschen Bildungsweg in Richtung Selbständigkeit marschieren, diese Option haben ältere Migrantinnen nicht. Gül Alp ist 52 und Mitte der siebziger Jahre aus Anatolien nach Deutschland gekommen. Gerade sind die neusten spanischen Brautkleider in ihrem Laden in Duisburg-Marxloh eingetroffen. Gül sitzt zwischen ihrer Lieferung vollbehangener Kleiderstangen, nebenan berät eine Mitarbeiterin eine Frau beim Abendkleidkauf. Wer Brautkleider in Marxloh verkaufen will, hat starke Konkurrenz. Mindestens 33 Brautläden gebe es in der Umgebung, sagt Alp. Doch sie weiß sich durchzusetzen. In der Türkei wollte sie Lehrerin werden, in Deutschland war ihr Abschluss nichts mehr wert. Ihr Mann arbeitete als Dolmetscher am Gericht, und Gül Alp bekam vier Kinder. Neben der Kindererziehung arbeitete sie als Schneiderin. Dann zerbrach die Ehe.

Ohne die Scheidung wäre sie heute nicht selbstständig, sagt sie heute. So war sie gezwungen, selbst aktiv zu werden: Für ein Brautmodengeschäft nähte sie Brautkleider, änderte Kleider und übernahm schließlich von ihrem Chef den Laden. Jetzt finanziert sie ein neues Brautmodengeschäft für ihre Töchter in Düsseldorf und träumt von weiteren Geschäften in Berlin und München. Einen deutschen Pass hat Alp nicht: “Ich bin Ausländer, aber das deutsche Leben ist mir vertraut.” Stolz erzählt sie, dass ihre Töchter früher anderen Kindern Deutsch-Nachhilfe gaben. Die haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit und wählen grün. Wenn sie dürfte, würde auch sie wählen. Ohne Stimmberechtigung ist sie für die wahlkämpfenden Parteien im Moment allerdings uninteressant. Immerhin, einmal wurden sie und andere Frauen aus Marxloh von einem Politiker zum Essen eingeladen. Das war vor der Bürgermeisterwahl in Duisburg. Gül Alp hat kurz überlegt, ob sie hingehen soll. Schließlich hieß der CDU-Bürgermeister, der sie einlud, Adolf mit Vornamen. Doch Adolf Sauerland hat es geschafft, sie von sich zu überzeugen und damit auch von seiner Partei. Und so geht der CDU bei der Bundestagswahl eine Stimme verloren, weil Gül Alp nicht wählen darf.

Auch Birnur Öztürk, die Vorsitzende von “Petek”, darf nicht wählen, denn sie will ihre türkische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben. “Ich soll Steuern zahlen. Ich bin ein Vorbild. Unsere Unternehmen sind gut aufgestellt.” Öztürk ärgert sich, dass sie trotz allem nicht wählen darf. Sie hofft durch das Business-Netzwerk stärker nach außen deutlich zu machen: “Wir sind Migrantinnen, wir sind aber auch Geschäftsfrauen. Wir sind hier angekommen, und wir sind auch Vorbilder.” Tülay Polat sitzt neben Öztürk und nickt. Hinter ihnen räumen Kellnerinnen den Seminarraum auf. Ein paar Frauen stehen noch zusammen, reden, tauschen mit der Workshopleiterin Visitenkarten aus. Es ist schwierig, die Frauen zu einem solchen Abend zusammenzubekommen. “Migrantinnen sind nicht an solche Netzwerke gewöhnt.” Sie suchten eher im eigenen Umkreis und in der Familie nach Rat und Unterstützung. Nicht ohne Folgen: Auch wenn Ausländerinnen häufiger Unternehmen gründen als deutsche Frauen, sie sind doppelt so oft von Schließungen betroffen. Gerade mal ein Drittel der Frauen sucht in der Gründungsphase Beratung in öffentlichen Stellen.

An Beratung hat es Tülay Polat bei ihrem ersten Gründungsversuch nicht gefehlt. An Krediten hingegen schon, obwohl sie einen deutschen Pass hat. Wählen geht sie auch. Doch im Wahlkampf fühlt sie sich von den Parteien nicht angesprochen: “Ich bin schon froh, dass dieses Mal das Migrationsthema nicht wieder aus der Schublade geholt wird.” Mehr Aufklärung und Zwischentöne wünscht sie sich, wenn es um Einwanderer geht: “Nicht jede angebahnte Ehe ist eine Zwangsheirat.” Durch das Netzwerk, so hoffen Polat und Öztürk, könnten sie stärker meinungsbildend wirken. Schließlich seien sie alle Positivbeispiele für gelungene Migration. So wie Gül Alp, die es allerdings erst ein einziges Mal zu einem der Business-Frühstücke von “Petek” geschafft hat. Sie ist einfach zu beschäftigt mit ihrem Hochzeitsgeschäft. Und die Arbeit zahlt sich aus. Traditionell zahlt der Schwiegervater für türkische Mädchen die Hochzeit, das Kleid und den Goldschmuck. Für die zukünftigen Frauen ihrer Söhne hat Gül Alp schon einen Tresor voller Goldschmuck gesammelt – und auch ihre Töchter kann sie bei der Hochzeit reich beschenken.

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„Ich fühle mich nicht als Deutscher“ http://www.wahlfahrt09.de/menschen/%e2%80%9eich-fuhle-mich-nicht-als-deutscher%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eich-fuhle-mich-nicht-als-deutscher%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/menschen/%e2%80%9eich-fuhle-mich-nicht-als-deutscher%e2%80%9c/#comments Thu, 10 Sep 2009 11:52:07 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=2385 Koeln_Murat_M

Foto: Anna Jockisch

KÖLN. SPD-Würfel auf dem Kölner Heumarkt. Jusos stehen in roten T-Shirts hinter dem Tresen, an einem Touchscreen können sich Interessierte ihr persönliches Wahlprogramm ausdrucken. Auch Murat M. schaut neugierig auf die SPD-Flyer und steckt sich noch einen Kugelschreiber in die Tasche. Er würde wählen – darf aber nicht.

„Ich bin der Murat, bin 23 Jahre alt, komm aus Köln und bin auszubildender Hotelkaufmann. Dadurch, dass ich türkischer Staatsbürger bin, fällt das Recht zu Wählen für mich weg. Obwohl ich hier in Deutschland geboren und aufgewachsen bin. Ich find das eigentlich nicht sehr toll, weil ich auch die deutsche Schulbildung genossen habe und auch meine Zukunft hier gründen werde. Und wenn ich nicht die Chance habe, für meine Zukunft hier abzustimmen, dann ist das schade.

Es gab ja vor 1999 die Möglichkeit, die doppelte Staatsbürgerschaft anzunehmen, aber die ist ja auch schon wieder weg. Ich will auch gerne die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, allerdings warte ich damit noch. Es ist einfach sehr schwer, man muss warten, Papierkram machen, das dauert. Außerdem, wenn ich mich jetzt bewerben würde, dann müsste ich Wehrdienst machen und das seh ich dann auch nicht ein.

Ich bin hier in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber ich fühl mich nicht deutsch, das muss ich ehrlich sagen. Da könnte man auch zig andere junge Leute meiner Generation und Nationalität fragen, die würden das genauso sehen.

In der Integrationspolitik macht Deutschland einiges falsch. Wenn ich mir vorstelle, dass Männer und Frauen schon über zehn, zwanzig Jahre in Deutschland sind, ohne annähernd fließend deutsch zu sprechen. Die Leute sind damals nicht mit dem Gedanken gekommen, dass sie hier auch bleiben, ihre Kinder hier großziehen und ihre Existenz hier gründen. Die wollten Geld verdienen und dann zurückgehen. Mein Vater ist 70 Jahre und sieht das heute immer noch so. Diesen Gedanken bei den Leuten aufzulösen und damit die Integration zu fördern, das hat Deutschland nicht geschafft.

Ich denke, da müsste man von Null anfangen: Jeder der in Deutschland aufgewachsen ist, darf Deutscher werden. Jeder, der ein Leben hier gegründet hat, darf Deutscher werden. Nicht so, wie es jetzt ist: Wenn Du Deutscher werden willst, musst du ne deutsche Frau heiraten und mit der drei Jahre verheiratet sein. Oder auch der Deutschkurs, dass man da die Sprache und Geschichte des Landes lernen soll, um Deutscher zu werden… Zum Deutschsein gehört viel mehr dazu als Vokabeln lernen. Es geht ja nicht um die Geschichte und die Sprache, sondern vor allem um das Leben hier. Ich denke, noch nicht mal alle Deutschen können die Fragen in diesen Tests beantworten. Deswegen kommt es mir so vor, als will man die Sache damit einfach nur schwieriger machen.

Die Sprache ist eben nur ein Aspekt. Der andere Aspekt ist, ob man die Leuten wirklich integrieren möchte. Ich habe meinen Vater gefragt: Hey, wieso kannst du kein Deutsch? Er meinte zu mir: Hab ich jemals mit einem Deutschen zu tun? Er ist seit über 40 Jahren hier. Die Deutschen gehen eben auch nicht direkt auf die Menschen zu.

Ich hab auch darunter gelitten. Wenn ich im Deutsch-Test eine Eins oder Zwei geschrieben habe, dann hab ich immer gehört: Ey, wieso hat der ne Eins geschrieben und ich nicht? Ja, wieso denn nicht?! Das hört sich witzig an, aber daran zeigt sich das eben.”

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Herr Günal erklärt die deutschen Bräuche http://www.wahlfahrt09.de/menschen/herr-gunal-erklart-die-deutschen-brauche/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=herr-gunal-erklart-die-deutschen-brauche http://www.wahlfahrt09.de/menschen/herr-gunal-erklart-die-deutschen-brauche/#comments Wed, 02 Sep 2009 15:23:28 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=1842 Yilmaz Günal

Foto: Milos Djuric

SCHÖNAU. Yilmaz Günal ist enttäuscht von der deutschen Politik. Zu viel Bürokratie, keine doppelte Staatsbürgerschaft, Multikulti als Lippenbekenntnis – also wird er selbst aktiv und dreht für eine türkische Internetseite Filme über den Ort, der seit 1980 seine Heimat ist: Schönau im Schwarzwald.

“Ich habe mich immer gefragt: Was soll eigentlich dieser Karneval?”, erzählt Yilmaz Günal. “Ist das Aberglaube? Oder Kultur? Oder einfach nur irgendein Anlass, um mal richtig zu feiern?” Schon seit 1980 wohnt er in Deutschland, er war 13, als seine Eltern ihn mitnahmen, erst nach Lörrach, dann nach Schönau, diese 2500-Seelen-Ortschaft im Schwarzwald, mit für ihn so seltsamen Bräuchen wie Muttertag, Tauziehen, Narrenbaum, Karneval. Nach einem Arbeitsunfall vor einigen Jahren findet Günal keinen Job mehr – und dreht in der freien Zeit Filme über seine deutsche Heimat.

Denn Heimat – das ist Schönau für ihn inzwischen. Früher dachte er noch, er geht zurück in die Türkei, wenn er alt ist. Aber heute ist das anders. “Vielleicht ein halbes Jahr in Schönau, ein halbes Jahr in der Türkei”, sagt er. Mittlerweile fühlt er sich mit beiden Orten verbunden, gern würde er auch beide Staatsbürgerschaften haben und in Deutschland wählen. Wen er wählen würde, das ist für ihn keine Frage: Bündnis 90/Die Grünen. “Wegen Cem Özdemir!”

Von den anderen Parteien erwartet er nicht mehr viel. Die haben für ihn bei der Integrationspolitik versagt: Dass die CDU die Türkei nicht in der EU haben will, dass die SPD die doppelte Staatsbürgerschaft nicht durchgesetzt hat – enttäuschend, findet er. “Die Politiker reden immer nur, erzählen etwas von Multikulti, und was kommt dann raus?” fragt Yilmaz Günal und muss das nicht beantworten.

Seine Entgegnung gibt er per Film: “Wir machen jetzt genau das mit der Kamera!”, sagt er. Sein Freund Lütfü Hatkoy dreht, er selbst zieht mit dem Mikro los und fragt die Leute Löcher in den Bauch. Der Pfarrer erklärt ihm den Karneval und das Fasten im christlichen Glauben, der Schönauer Zunftmeister beschreibt den Hintergrund des Narrenbaums, der sich auf Adam und Eva bezieht, EWS-Chefin Sladek erzählt vom Hintergrund der Schönauer Elektrizitätswerke, auf die die Leute in der Stadt so stolz sind.

Die Filme sind im Internet zu sehen, per Youtube und auf der website Haberin Dogru Adresi (mit Nachrichten für Türken in Europa) – auf Türkisch, aber viele Interviews auf Deutsch. “Ich will unter den Türken die deutsche Kultur bekannt machen”, sagt Yilmaz Günal. Um so seinen Teil zur Integration beizutragen.

website Haberin Dogru Adresi

http://www.youtube.com/watch?v=IgpPQ9VHgf4 – Tauziehen in Schönau
http://www.youtube.com/watch?v=L0iUlzfqo5E – Muttertag
http://www.youtube.com/watch?v=V3I_bivVGy8 – Karneval in Schönau

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Engagiert im Schwarzwald http://www.wahlfahrt09.de/menschen/engagiert-im-schwarzwald/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=engagiert-im-schwarzwald http://www.wahlfahrt09.de/menschen/engagiert-im-schwarzwald/#comments Wed, 02 Sep 2009 13:20:15 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3305 SCHÖNAU. Ethem Sahin ist Teil der rund 200köpfigen türkisch-stämmigen Community von Schönau im Schwarzwald – bei etwa 3000 Einwohnern. Seine Familie bewohnt ein Haus direkt neben der Kirche, er selbst ist Unternehmer und engagiert sich politisch in der SPD.

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“Wir sind hier in Görlitz gegen die NPD” http://www.wahlfahrt09.de/menschen/wir-sind-hier-in-gorlitz-gegen-die-npd/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wir-sind-hier-in-gorlitz-gegen-die-npd http://www.wahlfahrt09.de/menschen/wir-sind-hier-in-gorlitz-gegen-die-npd/#comments Sat, 15 Aug 2009 15:38:03 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=269 _MG_6111

Foto: Michael Bennett

GÖRLITZ. Joachim Otto, wurde 1941 im polnischen Lauban geboren, früher Mitarbeiter bei Wüstenrot, heute Rentner. Herr Otto kam an den Wahlfahrt09-Stand. Auf einem kleinen Zettel hatte er Stichworte notiert und erzählte uns seine Geschichte. Am Ende schenkte er uns noch sein Buch „Meine Wurzeln in Deiner Heimat.“

Ich bin Schlesier. 1945 mußte ich Lauban verlassen, meine beiden Großväter hatten dort eine Taschentuchfabrik. Durch den Krieg sind wir über Niederbayern bei Passau gelandet und dort bin ich aufgewachsen. Heute heißt Lauban Lubań, es liegt 30 km von Görlitz entfernt. Ich bin vor zwei Jahren mit meiner Familie nach Görlitz gezogen und fühle mich auch durch meine Wurzeln hier sehr integriert. Die meisten Görlitzer fühlen sich als Schlesier oder Oberlausitzer, nicht als Sachsen.

Was ich von den Görlitzern über Polen gehört hab, es gibt eine gewisse Zurückhaltung, dort rüber zu gehen. Das hängt wohl auch mit den 40 Jahren DDR zusammen. Mir wurde erzählt, dass zu DDR-Zeiten die Polen tagsüber über die Grenze kamen und Brot und Lebensmittel gekauft haben, und abends kamen die DDR-Leute von der Arbeit und es war alles weggekauft.

Ich würde alles tun, um mit den Polen kooperativer umzugehen. Die Polen sind wirtschaftlich wichtig für Görlitz. In der Berliner Straße zum Beispiel kaufen die polnischen Frauen ihre Kleider und Schuhe, ich glaube, ein Drittel des Umsatzes wird durch die Polinnen erwirtschaftet. Es kann sein, dass die Polen wirtschaftlich hier vorbeiziehen, sie bauen Baumärkte und Konsumtempel, sie schreiben deutsche Texte darunter und sind viel aufgeschlossener den Deutschen gegenüber als die Deutschen den Polen. Die Polen sind sehr ehrgeizig, die Eltern achten auf die Ausbildung ihrer Kinder, schicken sie zum Studieren ins Ausland. Die ersten kommen wieder zurück.

Die NPD macht hier Wahlkampf mit dem Slogan „Poleninvasion stoppen“. Aber wir sind hier in Görlitz gegen die NPD. Ich war einer von 400 Görlitzern, die sich haben abbilden lassen und gesagt haben: Wir wollen die NPD hier nicht. Damit nimmt Görlitz auch Partei für die Polen. Ein Argument für Polenfeindlichkeit ist die Grenzkriminalität. Die gibt es, es wurden Autos, Fahrräder geklaut, aber das sind nicht immer die Polen. Es gibt auch deutsche Kriminelle, die das ausnutzen und als Trittbrettfahrer mitklauen. Aber das hängt auch damit zusammen, dass in der Bundesrepublik die Armut immer schlimmer wird. Also Hartz 4 und Arbeitslosigkeit. Viele junge Leute rennen hier abends randalierend durch die Stadt, unser Auto wurde seitwärts eingetreten, der Spiegel abgerissen. Das waren auch keine Polen.

Viele der Alten bekommen das nicht mehr hin mit den Polen. Aber die Jugendlichen überwinden das, manche Görlitzer gehen in den polnischen Kindergarten, sagen Tschüß auf Deutsch und Dobre auf Polnisch. Ich hab ein Buch geschrieben: „Meine Wurzeln in Deiner Heimat“, es ist ein Verständigungs- und Begegnungsbuch, es soll jetzt auch auf Polnisch erscheinen. Die Polen reagieren sehr positiv, wenn man ihre Heimat als ihre Heimat anerkennt. Ich wünsche mir ein gutes Verhältnis zwischen Polen und Deutschen.

Im Kulturbereich und bei den Kirchen in Görlitz gibt es gute Ansätze, polnische Künstler stellen in der Neiße-Galerie aus, neben dem Jacob-Böhme-Haus gibt es ein Museum und dann die grenzübergreifende Kulturarbeit. Das funktioniert viel besser als politische Aktionen. Ich bin auch im Verein Kulturbrücken e.V.. Da machen 9-12jährige deutsche und polnische Kinder zusammen Zirkus-Workshops. Da ensteht Entspannung und Entkrampfung, die Jugend wächst also zusammen. Jetzt schreibe ich gerade ein Buch über zwei Katzen, eine Görlitzer Katze trifft einen polnischen Kater. Die haben keine Grenzprobleme, sondern ganz normale Katzenprobleme.

Protokoll: Lu Yen Roloff

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NPD-Plakatwelle macht Polen und Deutsche wütend http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/npd-plakatwelle-macht-polen-und-deutsche-wutend/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=npd-plakatwelle-macht-polen-und-deutsche-wutend http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/npd-plakatwelle-macht-polen-und-deutsche-wutend/#comments Sat, 15 Aug 2009 08:12:07 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=964 Erschienen am 21.8.2009 auf Spiegel Online

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Foto: Michael Bennett

GÖRLITZ. Fremdenfeindliche Parolen an der deutsch-polnischen Grenze: Vor der sächsischen Landtagswahl überschwemmt die NPD die Europastadt Görlitz mit ihren Plakaten. Die Bürger wehren sich – doch die Aktionen drohen das ohnehin fragile Verhältnis der Nachbarländer in der Region zu gefährden.

“Wissen Sie, was hier steht?”, ruft Frank Gotthilf und fuchtelt mit der polnischen Zeitung “Gazeta Powiatowa”. Neben ihm steht der Pole Mariusz Klonowski, Redakteur der Zeitung und tippt auf die Schlagzeile: “Die Würde der Polen ist verletzt!” Und übersetzt weiter: “Wie die Deutschen ausnahmslos von uns die Beachtung der Vorschriften in Deutschland verlangen, so müssen wir von ihnen ausnahmslos die Achtung unserer Rechte in Europa verlangen.”

Die beiden Mitglieder des deutsch-polnischen Unternehmervereins Innovation Neiße Region sind zum Wahlfahrt09-Stand gekommen, um die polnischen Reaktionen auf die NPD-Plakate zu schildern, die überall im Stadtraum hängen. Mit den Slogans “Poleninvasion stoppen” und “Ausländer raus” versucht die NPD in der Grenzstadt Görlitz, einen Keil zwischen Deutsche und Polen zu treiben.

Besonders perfide wirken die fremdenfeindlichen Plakate in den Straßen entlang der Neiße: Am anderen Ufer des Flusses liegt die polnische Nachbargemeinde Zgorzelec. Damit sind die Plakate ein direkter Affront für jeden Polen.

Täglich passieren Tausende Deutsche und Polen die Brücke am Grenzübergang, um auf der anderen Seite einzukaufen und zu arbeiten. Kontrollen gibt es nicht mehr – der Wechsel zwischen den Ländern ist zur Routine geworden. Touristen erkennen die Europastadt Görlitz/Zgorzelec auf den ersten Blick kaum als zweigeteilt. Auf beiden Seiten der Neisse sitzen Menschen in Cafés und auf Uferbänken, eine Fußgängerbrücke führt unterhalb der Altstadtmauern über den Fluss. Nur unmittelbar hinter der Grenze locken auf polnischer Seite grellbunt beschilderte Kioske mit günstigen Zigaretten, die Stange für 27 Euro.

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“Wissen Sie, wie das dem Image von Görlitz schadet?”, erbost sich Frank Gotthilf. Görlitz/Zgorzelec lebt vom gegenseitigen wirtschaftlichen Austausch. Viele Polen seien sehr wütend, bis nach Warschau seien die Beschwerdebriefe inzwischen gelangt. Bis zu fünfzig Prozent der Umsätze in hochpreisigeren Görlitzer Geschäften würden von polnischen Einkäufern stammen.

Rund 2000 Polen haben Wohnungen in Görlitz, es gibt gemeinsame Kindergärten, Jugendclubs und zweisprachige Theaterstücke, sagt Gotthilf. Nun bedrohe die NPD-Kampagne grenzüberschreitend tätige Unternehmer. Gotthilf und Klonowski haben deswegen eine Verfassungsbeschwerde gegen die NPD eingereicht, sie berufen sich darin auf Artikel 14 der sächsischen Verfassung: die Menschenwürde.

Besonders brisant finden Klonowski und Gotthilf die fremdenfeindlichen NPD-Plakate für das Image der Stadt Görlitz als “Europastadt”. Die sächsisch-polnische Grenzstadt bewarb sich um den Titel “Europäische Kulturhauptstadt 2010″ und präsentierte sich mit deutsch-polnischen Kultur- und Bildungsangeboten. Insgesamt rund zwei Millionen Euro wurden von 2002 bis 2006 in das eigens eingerichtete Büro gepumpt.

“Die Kampagne ist ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die hart daran arbeiten, dass aus den zwei getrennten Hälften eine gemeinsame Europastadt wird”, sagt auch Matthias Vogt vom Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen. Die Strategie der NPD in Görlitz beruhe auf Vorurteilen der Görlitzer Bevölkerung aus DDR-Zeiten. 1981 habe die polnische Regierung aufgrund der erstarkenden Gewerkschaft Solidarnosc ein mehrmonatiges Kriegsrecht in Polen verhängt. Zuvor war die Grenze von 1972 bis 1980 geöffnet. Dass die Polen damals die Waren in den grenznahen Läden quasi leergekauft hätten, sei bis heute “tief in den Hinterköpfen verankert”.

“Ein ganz gefährlicher Mann”

Die Plakatflut der NPD suggeriere eine viel stärkere Präsenz der Partei in der Stadt als real vorhanden sei. Nur etwa zwei Prozent der Görlitzer sind “echte Braune”, schätzt Vogt. Diese versuchen an jene unter den älteren Görlitzern zu appellieren, die als Kriegsflüchtlinge in die Stadt gekommen seien. Ihre Nachkommen redeten bis heute von Niederschlesien und meinten damit ihre verlorene schlesische Heimat. Hinzu kämen die “dumpfen Verlierer”, die sich der Schnelligkeit des heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftslebens nicht gewachsen fühlten. Weil die Linke für Protestwähler zu wenig Potential biete, hätten bei der vergangenen sächsischen Landtagswahl vor fünf Jahren 9,7 Prozent die NPD gewählt.

Die Kampagne der Rechtsextremisten bewertet Vogt als Verzweiflungstat. Denn die NPD habe in den letzten fünf Jahren “der Welt nachdrücklich bewiesen, dass sie weder intellektuell noch rhetorisch als Fraktion auftreten könne. Und in dieser Situation setzt die Görlitzer NPD systematisch auf Fremdenängste und hat entsprechend plakatiert”.

Knapp 2700 Stimmen haben Görlitzer Wähler dem NPD-Mitglied Andreas Storr bei den Kommunalwahlen am 7. Juni 2009 gegeben und ihn damit in den Stadtrat gewählt. Andere Stadträte beschreiben ihn als “ganz gefährlichen Mann”, der parlamentarische Prozesse nutze, um die Arbeit des Stadtrats zu blockieren, etwa in dem er ansonsten einstimmige Beschlüsse behindere und demokratische Prozesse so unnötig verlangsame. Zudem störe er Diskussionen mit NPD-Parolen.

600 Plakate gegen die NPD

Zwar habe der Stadtrat einstimmig beschlossen, den NPD-Mann Storr politisch zu isolieren, sagt Andreas Teichert von der unabhängigen Wählervereinigung “Bürger für Görlitz”: “Der Mann soll merken, dass er bei uns keinen Rückhalt und keine Zustimmung findet.” Doch die Nationaldemokraten in Görlitz bleiben aktiv. Sie demonstrierte jüngst gegen die Wehrmachtsausstellung und gibt das NPD-Blatt “Blickpunkt” in einer Auflage von 70.000 Stück heraus.

“Görlitz sagt Nein! zur NPD” verkünden deshalb dicke weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund seit rund einer Woche überall in der Stadt. Initiiert vom Verein “Aktionskreis für Görlitz” haben sich Bürger mit einer Plakataktion gegen die NPD gewehrt. Einzelpersonen, Parteien und Vereine spendeten Gelder, um 600 Plakate in der Stadt und an den Einfallsstraßen aufhängen zu lassen. Bürgermeister Michael Wiehler traf sich auf der Brücke am Grenzübergang mit dem polnischen Bürgermeister und übergab symbolisch ein Anti-NPD-Plakat.

Es ist bereits die zweite Anti-NPD-Kampagne der Stadt innerhalb weniger Wochen. Erst vor kurzem hatte die “Sächsische Zeitung” 400 Porträts von Görlitzern abgedruckt, die sich unter ihrem Namen gegen die Partei aussprachen. “Wir Görlitzer Bürger sind gegen die NPD”, fasst Joachim Rudolph vom Aktionskreis für Görlitz zusammen. “Wir bekommen täglich Anrufe von Bürgern, die unsere Kampagne unterstützen.” Auch wenn die NPD die Lage anders darstelle: “Es gibt eine Menge Normalität an dieser Grenze.”

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